Mehr als Landreform: Der Platz des MST
Neoliberalismus und die Rolle der Großkonzerne
Porto Alegre und die Entwicklung von Strategien
Landkonflikte
Strategien und aktuelle Situation der Landlosenbewegung
Internet Links

 

 


Mehr als Landreform: Der Platz des MST

eine Analyse von João Pedro Stedile vom nationalen Vorstand der Landlosenbewegung
 
Brasilien besitzt die unausgeglichenste Gesellschaft der ganzen Welt. In keinem anderen Land gibt es so grosse Unterschiede zwischen arm und reich. Das hat historische Wurzeln. Gerade mal 1 Prozent der Eigentümer, das sind um die 40'000 Familien, besitzen die Hälfte allen bebaubaren Bodens, während der Rest unter den 5 Millionen mittleren und kleinen Bauernbetrieben aufgeteilt ist. 4,5 Millionen Familien leben ausserdem auf dem Land, ohne ein einziges Stück davon ihr Eigen zu nennen. Wo liegt die historische Erklärung für die Aufrechterhaltung eines solch ungerechten Systems? Während 400 Jahren Kolonisierung pflanzten wir auf unseren Böden vor allem Exportprodukte wie Kaffee, Zukkerrohr, Baumwolle, Gras fürs Vieh und Kakao an; in Monokulturen, die Sklaven bearbeiteten. Nach der Abschaffung der Sklaverei verbot die Regierung den ehemaligen Sklaven, Bauern zu werden, denn das Landgesetz von 1850 sprach nur demjenigen Land zu, der es kaufen konnte. Zwischen 1930 und 1980 wuchs die Industrie in Brasilien rasch an. Wir wurden zur achtgrössten Industrienation der Welt. Die Städte wuchsen schnell, massenhaft zogen die Leute dahin. Heute leben nur noch 20 Prozent der Bevölkerung auf dem Land. Doch die verkehrte Konzentration von Boden und Reichtum bei wenigen blieb bestehen. Das führte dieses Modell in den 80er Jahren in eine Krise. Die erste Veränderung, die aus dieser Krise geboren wurde, war der Wechsel der Regierungsform: die Militärdiktatur fiel. Auch entstanden in diesen Jahren verschiedene soziale Bewegungen wie der MST. Wir träumten davon, die Armut und die Ungleichheit abzuschaffen, indem wir gegen den Grossgrundbesitz kämpften. Wir versuchten, aus den Erfahrungen früherer Bauernbewegungen zu lernen, tauschten uns mit Organisationen anderer Länder aus und praktizierten seit Beginn einen Kampf der Mobilisierung der Massen; alle Familienmitglieder sollten an den Aktionen beteiligt sein. Die politische Richtung wird von allen gemeinsam bestimmt und die Aufgaben werden verteilt. Wir bilden uns weiter, respektieren immer die Entscheide der Mehrheit und mit Disziplin versuchen wir uns nie von den konkreten Bedürfnissen unserer Basis zu entfernen. Wir wollten Boden, Kapital und Erziehung für alle. Unsere Aktionen waren Landbesetzungen und damit gewannen wir massiven Zulauf. In 16 Jahren besetzten wir über 2000 Fazendas. 350'000 Familien wurden angesiedelt und im ganzen gewannen wir 7 Mio. Hektaren aus Grossgrundbesitz für uns zurück. Doch wir konnten das ungerechte System in seiner Natur nicht ändern. Im letzten Jahrzehnt nun wurden wir mit noch grösseren Herausforderungen konfrontiert. Die brasilianischen Eliten sahen keinen anderen Weg aus der Industriekrise als die Unterordnung der Industrie unter ausländisches Kapital. Sie schickten sich also voll in die weltweite neoliberale Wirtschaftspolitik.

Die Regierung Fernando Henrique Cardoso steht ganz im Zeichen dieser neuen Richtung. Auch die Landwirtschaft wurde diesem Modell unterstellt und muss nun mit grossen internationalen Firmen konkurrieren. Dieses Modell wird das «nordamerikanische Modell» genannt. Das heisst, wir sollen uns am Modell des Nordens orientieren und uns modernisieren.

Neoliberalismus und die Rolle der Großkonzerne

In Wirklichkeit profitieren von solchen Massnahmen nur grosse Exportbetriebe, der Handel wird oligopolisiert und unsere Agroindustrie an ausländische Unternehmen verkauft. Schlimmer noch: Wesentliche öffentlichen Rechte der Bauern wie Kredite, Forschung, technische Hilfen und Geräte werden gestrichen. Sogar Fachleute in der Politik geben zu, dass dieses Modell Familienbetrieben keinen Platz mehr lässt. Nur 18 Prozent aller gegenwärtigen Betriebe werden überleben. Kann man sich vorstellen, welch eine enorme Abwanderungswelle dies auslösen wird? Wo bleibt da die Landreform? Mit solch einem Modell konfrontiert, wird die Idee einer klassischen Landreform mit gerechter Verteilung des Landes zur Ernährung aller immer mehr zum naiven Traum. So ist auch die Beteuerung der Regierung, dass sie die Landreform unterstützt, pure Fantasie. Sie betreibt einzig eine Politik der sozialen Kompensation, immer dann, wenn sich die Landbesetzungen in ein Problem für sie verwandeln. Doch in Wirklichkeit geht die immer ungleichere Verteilung weiter und unsere Industrie und der Handel unterstehen zusehends grossen multinationalen Konzernen. Wo ist also der Platz des MST? Es gibt einen Platz, aber unser Kampf kann jetzt nicht mehr nur ein Kampf um den Boden sein. Viel wichtiger ist nun der erneute Wechsel des Witschaftsmodells. Wir fahren weiter mit Landbesetzungen, Märschen und Demonstrationen. Doch wir vereinigen uns auch mit anderen sozialen Bewegungen, mit Gewerkschaften und Kirchen, um gemeinsam die absurde Importpolitik von Produkten, die auch bei uns produziert werden könnten und die mächtigen Multinationalen zu bekämpfen. Nestle, Leite Gloria und Parmalat, drei multinationale Firmen, kontrollieren in Brasilien den gesamten Milchmarkt. Das darf nicht so sein! Gleichermassen kontrollieren nur sechs multinationale Getreidefirmen den gesamten Getreidehandel des Landes. Wegen unseres ausgeweiteten Kampfes erklärten uns nun die Regierenden zum Feind. Und sie bekämpfen uns mit allen möglichen Waffen: mittels der Medien, mit unverhüllten Lügen über uns, und sie haben sogar die Landpolizei wieder ins Leben gerufen, die auf Landlose spezialisiert ist! So wollen sie den MST politisch zerstören. Unser Kampf wurde schwieriger, doch wir haben keine Alternative! Und zusammen mit dem grossen brasilianischen Chronisten Luis Fernando Verissimo sagen wir: «Der Neoliberalismus könnte funktionieren, gäbe es nicht das Volk!» Die Menschen sind wichtiger als das Kapital

 
Porto Alegre und die Entwicklung neuer Strategien

Seit Margareth Thatcher die Staaten abschaffen wollte, seit Fukuyama das Ende der Geschichte ankündigte, die Intellektuellen in den Universitäten wieder nur eine Denkart gutheissen und die Medien eben nur diese als «wahr» anpreisen, scheint es, dass das Geld definitiv die Welt regiert. Grosse transnationale Unternehmen, ausgehend von den USA, benützen die Gelegenheit, ihren Machtbereich zu vergrössern, Monopolpositionen zu stärken und mehr Gewinne zu machen, während gleichzeitig die Rechte der Arbeiter abgebaut werden und denjenigen mit Bomben gedroht wird, die mit den Mächtigen nicht einer Meinung sind. Doch glücklicherweise funktionierte die Theorie der Dialektik einmal mehr: auf jede Aktion folgt eine Reaktion. Und sie hat nicht auf sich warten lassen Tausende von Menschen verschiedener Herkunft, mit unterschiedlichen Motivationen wandten sich in Seattle, Washington, Prag, Nizza und Davos gegen das Kapital. Und das Kräfteverhältnis begann sich zu verschieben, wenn auch das Imperium immer noch die Macht in seinen Händen hält. Als Frucht dieses Erfolgs, der noch mehr Leute zum Widerstand anspornte, entstand die Idee des Weltsozialforums: Porto Alegre war ein Treffen aller, die sich für die Menschen und gegen das Kapital einsetzen. Die politische Rechte war verblüfft und die bestellten Medien begleiteten perplex das Geschehen. Sie versuchten unermüdlich, das Treffen zu einem Defilee von Persönlichkeiten herabzumindern, jagten Gerüchte oder malten es als folkloristisches Treffen der Linken aus. Doch sie täuschten sich. Und zu guter Letzt mussten alle zugeben, dass keineswegs die gewünschte Folklore, auch keine dogmatischen Diskussionen langweiliger Akademiker, die gern pedantische Seminare besuchen die Resultate des Treffens waren. Ebensowenig war es politischer Tourismus gewesen, wie das bei Regierungsanlässen so üblich ist. Porto Alegre war die Kreuzung, wo sich alle trafen, die etwas verändern wollten. Und alle konnten ihre Meinung vorbringen. Die Vielfalt an Ideen war fantastisch. Und alle zielten sie darauf ab, die wirklichen Dilemmas und Probleme der Menschheit zu lösen. Während in Davos die Herren der Welt Gewinnprozente, Börsenkurse, Finanzkapital und freier Markt diskutierten, forderten uns die aktuellen Probleme der Menschen dieses neuen Jahrtausends heraus: Arbeit, Boden, gesunde Ernährung, Wohnraum, Bildung für alle, Würde und Ethik. Doch wir begnügten uns nicht mit dem Debattieren von Ideen. Denn nur die Praxis bewegt die Welt. Und nur Ideale mobilisieren das Volk. Darum eröffneten wir das Forum mit einem Marsch von Tausenden von Menschen, die glaubten, dass eine bessere Welt möglich sei. Junge und Punks fühlten sich frei, warfen mit faulen Eiern aufs McDonalds. Viele USA-Flaggen wurden verbrannt. Und das nicht als Affront gegen das amerikanische Volk, sondern als Protest gegen das Symbol des Imperiums, das allen seinen Willen in Wirtschaft, Politik und Militär aufzwingen will. Erzieher, Lehrer und Lehrerinnen aller Welt zeigten viel Kreativität in ihren Demonstrationen für öffentliche und unentgeltliche Bildung für alle.Wir Bauern des Südens, als Verteter einer der vielen Bauernorganisationenund unterstützt von vielen anderen besetzten emporär ein Gelände von Monsanto, um darauf hinzuweisen, dass sich der Hunger in der Welt nicht mit Gentechnologie eliminieren lässt, im Gegenteil, dass diese bloss einigen wenigen Firmen das Monopol über sämtliche gentechnisch veränderten und von ihnen patentierten Saatprodukten garantiert; Firmen wie Monsanto, Dupont, Cargill, Syngenta (Novartis) und Aventis.

Wir wollten eine internationale Kampagne lancieren, damit die UNESCO alles Saatgut zum «Erbe der Menschheit» erklärt. Die Ernährung der Menschheit hängt von der Demokratisierung des Saatguts ab. Und die Bauern der ganzen Welt dürfen nicht Opfer von fünf Unternehmen werden. Die Medien haben in der Berichterstattung über das Treffen die Teilnahme des französischen Bauernführers Bové viel zu stark gewichtet, denn an der Monsanto-Besetzung waren noch 22 andere auernführer beteiligt. Doch mit solchen Fehlgewichtungen wollten sie eben gerade die Wichtigkeit des gesamten Forums herunterspielen. Der Minister Gregory vergass gar seine Vergangenheit als Mitglied der Kommission für Frieden und Gerechtigkeit der Erzdiözese São Paulo und verfiel der Lächerlichkeit, die Wegweisung Bovés zu verlangen. Er hätte sich besser um die Festnahme des italienischen Bankiers Cacciola bemüht, der das brasilianische Volk um 1,2 Milliarden Reais gebracht hat, die bis heute noch nicht zurückgewonnen werden konnten. Oder er hätte sich für einen Stopp der Umweltbelastung einsetzen können und verhindern, dass die nationale Entwicklungsbank Monsanto einen Kredit von 200 Millionen Dollar gibt, damit Monsanto in Camacari im Bundesstaat Bahia eine Herbizidfabrik baut, die Gifte herstellen wird, die unsere Umwelt schädigen.Das Sozialforum war auch deshalb sehr wichtig, weil es viele Organisationen dazu anspornte, zur selben Zeit Paralleltreffen durchzuführen. Im ganzen gab es über 800 Seminare.

 
Und wir sozialen Organisationen von Stadt und Land realisierten Plenarien mit über 900 anderen Institutionen, wo wir gemeinsame Ziele für den konkreten Kampf definierten. Wir sind jetzt stärker vereint gegen den internationalen Währungsfonds, die Weltbank, die Gentechnologie, die Auslandschuld, gegen den Ausschluss der Armen von Gesundheit, Bildung und Landbesitz. Wir kümmerten uns wenig um Verträge und Dokumente. Wir planten lieber gleich konkret mit der Agenda in der Hand. Denn wir werden uns wieder treffen, wenn sich die Herren der Welt begegnen. Wir werden wieder auf die Strasse gehen, sei's in Buenos Aires, Quebec, New York... oder an anderen Orten. SIE wollen die Gewinnprozente, die Ausbeutung, das Elend, den sozialen Ausschluss globalisieren. WIR werden den Kampf, die Ideale, die Kultur, die Erkenntnis und den Willen, die Welt zu verändern, globalisieren. Porto Alegre war während 5 Tagen ein Welthafen, wo wir andockten, umuns mit Idealen, mit Solidarität und Kameradschaft aufzutanken und voll mit dieser Energie kehrten wir in unsere Länder zurück, bereit zu neuen Kämpfen. Es wird der Tag kommen, wo sich alle Völker gegen die Ausbeutung erheben werden. Davos wird da einzig eine demokratisierter Winterkurort sein. Und der IWF ein Weltfonds zur Unterstützung der Indigenas!
 

Landkonflikte im Jahr 1999
 
Die Landkonflikte sind die wichtigsten Beweise dafür, dass die brasilianische Agrarfrage weiterhin ein akutes Problem bleibt und sich sogar zuspitzt. Entgegen der Fakten wird von vielen Seiten versucht, die Bedeutung dieser Frage herunterzuspielen. Die Comissão Pastoral da Terra (CPT) ist die einzige Organisation, die Recherchen im ganzen Land anstellt, um die Konflikte und die Gewalttaten, die durch die ungelöste Agrarfrage hervorgerufen werden, zu dokumentieren - und dies nun schon seit mehr als zwei Jahrzehnten. Wenn die CPT nicht wäre, hätten die Sozialwissenschaftler enorme Schwierigkeiten, ihre Forschungen bezüglich der Landkonflikte auf nationaler Ebene zu aktualisieren. Im Jahre 1999 nahmen sowohl die Anzahl der Konflikte um Land, als auch der Widerstand auf dem Land zu. In den letzten acht Jahren haben sich die Anzahl der Konflikte mehr als verdoppelt; sie stiegen von 361 auf 828 Fälle an. Die Anzahl der in Konflikte verwickelte Personen wuchs von 154'000 im Jahre 1992 auf mehr als 600'000 Personen im Jahre 1999. Die Gesamtfläche des umkämpften Landes blieb in diesem Zeitraum quasi unverändert und bewegte sich um 3,5 Mio. Hektar.In der Zeitspanne 1992 bis 1999 stieg ausserdem die Anzahl der Konflikte um Arbeits- und Angestelltenrechte, während sich die Zahl der beteiligten Personen verringerte. Diese Tatsache lässt sich als Resultat der gestiegenen Arbeitslosigkeit durch die intensive Mechanisierung in der Landwirtschaft verstehen. Über diese Tatsache hinaus muss berücksichtigt werden, dass die CPT bis 1996 nur Fälle von Sklaverei registrierte. Erst 1997 fing sie damit an, den verschieden Formen von «Überausbeutung» sowie der Nichtbeachtung der Arbeits- gesetzgebung nachzugehen. Mit dieser neuen Registrierung verdreifachten sich die Arbeitskonflikte. 1999 wurden 1099 Personen - davon 25 Minderjährige - registriert, die Sklavenarbeit unterworfen waren. Diese verabscheuungswürdige Form der Ausbeutung kommt nicht nur in Amazonien vor, sondern auch im Bundesstaat Paraná im Südosten, wo eine moderne Landwirtscjaft vorherrscht. Pará ist der Bundesstaat mit 53 Prozent der Sklavereifälle. Die Arbeitskonflikte machten nur 5 Prozent der gesamten Konflikte aus. Die Konflikte um Arbeitsrechte nehmen aus den genannten Gründen tendenziell ab, während die Gesamtzahl der Konflikte auf dem Lande in der Tendenz zunimmt.In den letzten acht Jahren wurden 345 Menschen in Konflikten um Land getötet, was fast einer Person pro Woche entspricht. Die Menschen verlieren ihr Leben, weil sie für Land, für Arbeit sowie ihre bürgerlichen Rechte kämpfen - und das in einem Land, in dem die Agrarreform noch «Zukunftsmusik» ist, und der Grossgrundbesitz weiterhin zunimmt. 1999 wurden in 941 Konflikten, die 769.531 Menschen einbezogen, 27 Morde verübt. 52 wurde Menschen Opfer von Mordversuchen; 91 erhielten Morddrohungen; 62 wurden Opfer von Folterungen und 445 wurden körperlich angegriffen.

In allen diesen Konflikten kam es zu 611 Inhaftierungen von Menschen, die sich für die Verwirklichung der Menschenwürde einsetzten. Durch die Analyse der geographischen Verbreitung der Konflikte von 1999 lässt sich eine Landkarte der Gewalt erstellen. 40 Prozent der Konflikte geschahen im Nordosten - hier in erster Linie in den Bundesstaaten Pernambuco und Bahia. Der Bundesstaat mit den zweithöchsten Vorkommnissen von Konflikten ist Mato Grosso do Sul, gefolgt von Pará und Paraná. Indessen ist die Beobachtung ebenfalls wichtig, dass im Süden, im Südosten Brasiliens sowie im Bundesstaat Mato Grosso do Sul 40 Prozent der betroffenen Personen lebten. Im Norden gab es mit 46 Prozent die grösste Anzahl von Mordfällen - davon neun Ermordete allein in Pará. In der Nord-Region und dort hauptsächlich in Pará konzentrieren sich die grössten Prozentanteile der Personen, die Morddrohungen erhielten sowie Folterungen und Aggressionen ausgesetzt waren. Diese drei Kategorien der Gewalt bleiben weiterhin typisch für die Gewalt gegen die LandarbeiterInnen der Nord-Region Brasiliens. Im Nordosten werden dagegen häufiger Mordversuche an inhaftierten Personen registriert. Der Bundesstaat São Paulo ist mit 22 Prozent «Spitzenreiter» bei den inhaftierten LandarbeiterInnnen. Danach folgen Bahia mit 21 Prozent, Paraná mit 20 Prozent und Pernambuco mit 16 Prozent. Die vier genannten Bundesstaaten sind verantwortlich für 79 Prozent aller Verhaftungen. Diese hohen Inhaftierungsraten entstehen einerseits durch die Art, wie die Regierung die Agrarfrage behandelt - man denke dabei an Paraná. Andererseits erklären sie sich durch die Aktionen der Gerichte, die ständig Landlose unter dem Vorwurf der Bandenbildung festnimmt, wie das Beispiel von São Paulo - insbesondere Pontal do Paranapanema - zeigt. In den 90er Jahren lässt sich feststellen, dass sich der Kampf um Land mehr und mehr in den Gerichten abspielt. Zur Verteidigung des Grossgrundbesitzes gegen Verletzung des Eigentumsrechtes werden «neue Zäune gezogen».1999 war kein untypisches Jahr. Die Analyse der Daten lässt keine Zweifel daran aufkommen, dass die brasilianische Agrarfrage mit den gleichen Tendenzen fortbesteht, trotz des gesamten Prozesses des Kampfes und des Widerstands der LandarbeiterInnen. Der Grossgrundbesitz und das Kapital mit ihren verschiedenen Formen von Gewalt, der Enteignung und der Vertreibungen behalten weiter ihre Macht. Die Wirklichkeit von heute und die Zukunftsszenarien deuten nicht auf substanzielle Veränderungen hin. Wir kommen im dritten Jahrtausend mit den gleichen Problemen des alten Jahrhunderts an.

Strategien und aktuelle Situation der Landlosenbewegung
Interview von Infoterra mit João Pedro Stedile

Infoterra: Die Zeitung Folha de São Paulo berichtete , dass siebzig Prozent der Bevölkerung gegen Besetzungen von Land und öffentlichen Gebäuden sind.

João Pedro Stedile: In Brasilien werden Umfragen nicht im wissenschaftlichen Stil gemacht, um den Kenntnisstand und die Ansichten der Bevölkerung herauszufinden. Eigentlich läuft es viel eher wie in der Werbung, denn zuerst heisst es überall «man darf keine öffentlichen Gebäude besetzen, man darf keine öffentlichen Gebäude besetzen ...» und dann gehen sie hin und starten eine ihrer raschen, unwissenschaftlichen, telefonischen Umfragen und stellen suggestive Fragen, wie zum Beispiel die Landreformbehörde INCRA einmal: «Sind Sie dafür, dass der MST in öffentliche Gebäude eindringt, sie beschädigt und öffentliche Gelder verschwendet». Wenn sie mich zu Hause anrufen und auf diese Weise fragen, dann bin auch ich dagegen. Im Übrigen ist dies auch die Linie des MST.

Einmal abgesehen von Meinungsumfragen, welchen Sinn hat es, öffentliche Gebäude zu besetzen?

Die Landlosenbewegung verhandelt seit März mit der Regierung. Wir führten bereits alle möglichen Verhandlungen, mit dem Direktor der Banco do Brasil, mit dem Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium und mit dem Agrarreformminister Jungmann. Alle haben sich unsere Anliegen angehört und gesagt: «Sehr interessant, tatsächlich, die Landwirtschaft verarmt, eure Forderungen sind gerechtfertigt, aber wir haben damit nichts zu tun. Die Verantwortung liegt bei den Architekten der Wirtschaftspolitik und beim "Finanzministerium." Sie gaben uns also den Tipp, wo im Land die Macht liege, und wir haben daraufhin entschieden, in den Hauptstädten aller Bundesstaaten das Wirtschaftsministerium unter Druck zu setzen, das eigentliche Machtzentrum dieser Regierung. Wir führten Mahnwachen durch und betraten auch die Gebäude, denn schliesslich gehören die öffentlichen Gebäude uns, nicht der Regierung. Doch alles ohne auch nur eine Büroklammer mitlaufen zu lassen und ohne die BeamtInnen zu belästigen. Es gab zwei Zwischenfälle, einen in São Paulo, einen in Cuiabá und insgesamt gingen drei Scheiben in die Brüche. Das ist das Ausmass des Schadens, den unsere Besetzungen angerichtet haben. Die Regierung richtet da grössere Zerstörungen an: Allein die Zentralbank weist ein Defizit von 9 Milliarden 700 Millionen Reais auf. Mit diesem Geld wurden private Banken vor Verlusten bewahrt. Ich habe ein neues Angebot für Präsident Fernando Henrique Cardoso: Wir hören auf, ihn zu kritisieren und er gibt diese neun Milliarden für die Landreform her, dann sind wir quitt.

Welche Allianz wäre notwendig, um in Brasilien ein neues gesellschaftliches Modell mit Einkommensverteilung und ernstgemeinter Landreform zu etablieren?

Studien zufolge profitieren vom heutigen Modell höchstens 15, eher 10 Prozent der Bevölkerung: Ein Teil der Mittelklasse und die Elite. Diese 15 Millionen Menschen sind dennoch ein grosser Markt für die multinationalen Konzerne in Brasilien. Die übrigen 150 Millionen der Bevölkerung sollten an einer anderen Politik interessiert sein. Allerdings fehlen die subjektiven Voraussetzungen, oder anders gesagt: diesen 150 Millionen Ausgeschlossenen fehlen die politischen Formen und Organisationen, um sich effektvoll gegen die Politik der Regierung zu Wort zu melden. Es ist deshalb schwierig, von einer Allianz im Sinne eines Zusammenschlusses von Parteien und Bewegungen zu sprechen, da die brasilianische Gesellschaft sehr desorganisiert ist.
Eine Form von Kräfteverhältnis aber besteht, nämlich dasjenige zwischen einem widerständigen MST und einer gefährlichen Offensive der Regierung.

 

 

Quellen & Internet Links

http://www.mst.org.br/ spanischsprachiges Archiv von Movimento Sem Terra, Fotos
http://www.geocities.com/brasil_at/MST.html Infoterra Internet Homepage
Am 17. April '95 ermordete die Militärpolizei des Bundesstaates Pará in der «S-Kurve» auf der Landstrasse zwischen Eldorado dos Carajás und Marabá 19 Mitglieder der Landlosenbewegung, 69 wurden zum Teil schwer verletzt. Dieses Massaker war der Auslöser für die Gründung von Infoterra wo immer wieder über den Fall und seine schleppende Behandlung berichtet wird.